„Goethe war gut …“.

Zum Kulturbegriff im Zeitalter der Digitalisierung, Diskussionsbeitrag  stARTconference Ruth Bamberg im Mai 2020

Es gab eine Zeit, die ich noch erlebt habe, da wurde den Kindern ganz selbstverständlich ein oder besser mehrere Bücher zum Geburtstag oder anderen Anlässen geschenkt. Überreicht wurden die Bücher mit bedeutungsvoller Geste, die dem Kind zeigen konnte, dass es mit der Fähigkeit zu lesen nun eine Welt betreten würde, wo die wirklich wichtigen, die erwachsenen Dinge verhandelt werden. 

Die Kunst des Schreibens hat mit dem Buchdruck einen ganz unerwarteten Aufschwung erhalten. Wort für Wort, Zeile für Zeile bewegen wir uns seither auf der Zielgeraden zum Wahren, Schönen und Guten. Unsere kulturelle Identität gründet auf der linearen, immer gleichen Erzählung mit Happyend Versprechen. Sogar die katholische Erzählung von der Erlösung vermag in der Kreuzigung noch ein Happy End zu verorten. Wir wissen, der Weg ist zwar steinig, aber (!) geradeaus aufs Ziel gerichtet. Schritt für Schritt, Zeile für Zeile: linear. 

Hinzu kommt, dass die Schreibwerkzeuge selbst uns dabei unterstützen, die Gradlinigkeit nicht zu verlassen, mit F. Nietzsche: „Sie haben recht, – unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“. Das geschriebene bzw. gedruckte Wort bestimmt, wie wir Denken und die Art, wie wir über etwas denken. Für das daraus resultierende Lebensgefühl voll Zuversicht und in freudiger Erwartung auf Erlösung eigneten wir uns seit der Aufklärung bis heute Texte, Notationen, Erzählungen an! Dass es eine Sehnsucht gibt nach Erhabenheit, dem Versprechen, dass alles gut ist am Ende, kann jeder verstehen, der Kindern oder Enkeln schon einmal eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hat. 

Mit welcher Geste Eltern ihren Kindern heute Handys oder Tabletts überreichen, kann ich mir nur schwer vorstellen. Aber ich weiß, dass Eltern ihren Kindern eine Welt übergeben, in der sie selbst oft überfordert sind. Kinder heute lernen allein – noch immer wie schon seit 30 Jahren – ganz ohne Begleitung ihre digitalen Gadgets zu bedienen, einen Weg durchs Internetdickicht zu finden, die Welt mit ihren Möglichkeiten mittels neuer Technologien zu begreifen. 

Digital Natives, das sind die seit den 1990er Geborenen und in einer Welt aufwachsen, die neu – jedenfalls ziemlich neu ist. Das ist dem Werkzeug Computer und einem Paradigmenwechsel geschuldet, der all unsere Lebensbereiche umstülpt. Das Denken der „Digital Natives“ erfährt sich nicht mehr linear! Anfang – Mitte – Schluss sind nur eine Möglichkeit von Erzählung, nicht länger die einzig „richtige“ Form der Beschreibung. Das Denken erfährt durch die neuen Werkzeuge und ihr massenhaftes Erscheinen die Möglichkeit von Non-Linearität.

Denn durch die Geschwindigkeit der Kommunikation und der Gleichzeitigkeit von allem mit allem ist die Zeit zu einem einzigen endlosen Moment und der Raum zu dem „Ort-an-dem-ich-bin“ geschrumpft. Die absolute Gleichzeitigkeit von „alles und immer“ verändert unser Leben bis in unser Innerstes hinein.

Digital Natives können die Erhabenheit des Versprechens abendländischer Kultur nicht mehr angemessen oder gar nicht mehr verstehen, weil es ihnen an der Fertigkeit mangelt, sich diese Inhalte erschließen zu können. 

Hinzu kommt, dass auch die kleinen leistungsstarken Tools, die Smartphones, I-Pads und Laptops für uns die Anmutung von magischen Werkzeugen haben und wie einst Bleistift oder Feder ebenfalls darüber mitbestimmen, wie wir über diese Tools und über die Art unserer Möglichkeiten mit ihnen denken. Noch haben wir nicht ausreichend verstanden, dass wir gegenwärtig nichts als bloße Maschinenbediener sind.

Der gängige Kulturbegriff im 21. Jh. scheint die Auffassungen des 19. Jh. zu konservieren zu wollen. Das sind textbasierte, also lineare Denkfigur! Das erzeugt seltsame Ansichten, hier von Ralph Brinkhaus* vertreten: „Der Inhalt einer Beethoven-Symphonie bleibt stets derselbe, egal ob sie in der Berliner Philharmonie, einer „Digital Concert Hall“ oder auf YouTube zu hören ist. … Und ob eine Melodie Millionen begeistert oder nicht, liegt nicht an der Produktionsart oder den Vertriebskanälen, sondern immer noch zum großen Teil an der Originalität und Eingängigkeit der Musik.“ 

Diese Meinung ist nicht falsch, unterschlägt aber einerseits die Errungenschaften und den Fortschritt eines ganzen Jahrhunderts.  Das 20. Jahrhundert war das wahrscheinlich katastrophischste aller Zeiten und der Untergang des Schönen Guten und Wahren des deutschen Menschen. Ausdruck dieses kulturellen Verlustes und der Versuch seiner künstlerischen Verarbeitung sind u. a. Dissonanzen, Kakofonien, 12-Ton-Musik, Expressionismus, „Der Schrei“, „Die schwarze Milch…“. Es sind Abstraktionen und schließlich die Auflösung der begrenzenden (linearen) Formen hin zum autonomen Zeichen des Individuums! – eine Befreiung! Aber von Eingängigkeit keine Spur mehr, im Gegenteil – heute möchte sich Kultur neu aufstellen, das finstere Jahrhundert hinter sich lassen – nachvollziehbar. Es bleibt die Frage zu stellen, ob es zukunftsvoll ist, sich dabei allein auf Datensammlung und Konservierung zu stützen, wie es die Denkfigur von Brinkhaus nahe legt.

Es ist nicht gleichgültig, wie eine Beethoven-Symphonie erklingt, außer es ginge um den reinen Informationswert derselben. Das Eindrücklichste ist aber, dass den ganzen Leib erfassende große Orchester – die Schwingungen in der Luft, die anmuten wie Dasein „Jener geahnten Wesen!“ *

Recherchiert man Beethoven auf YouTube, liegen Suchergebnisse vom Spartenkanal „arte“ ganz vorne und zahllose weitere Ergebnisse: angefangen bei „Für Elise“ eingespielt von einem niedlichen Kind, gefilmt von seiner stolzen Mutter, selbst gebastelte Hommagen mit Rosenbildhintergrund, Erklärvideos über Taubheit und Liveaufzeichnungen aller (!) großen Beethoven Interpreten …. 

Google liefert aus einem endlosen Datenpool Datenausschnitte der Kategorie Beethoven. 

Lesen und Tippen reichen als Kulturtechnik aus für Maschinenbediener! Wenn es um die Beherrschung der Maschinen geht, benötigen wir eine erweiterte Kulturtechnik und diese kann nur mit einem freigewordenen Blick erlernt werden!

Daten müssen, das sollte deutlich werden, zunächst beurteilt und dann interpretiert werden. Urteilsvermögen erlangt man, indem man möglichst viele Aspekte ein Objekt betreffend erkennt und bewertet, um es entsprechend einschätzen zu können. Ein Erlebnis darf mit Leib und Seele erfahren werden! Erröten, ein erhöhter Puls, Unsicherheit, vielleicht Ängstlichkeit, das eigene Herz in der Brust spüren, mitfühlen und -fiebern, staunen, all das und mehr gehören dazu, machen uns erst zum Menschen, der sein ganzes Potenzial, seine Empfindung, Empathie – und die eigene Vernunft erfassen und einmal auch anwenden kann. Erfahrungen und Urteilsfähigkeit hängen dicht zusammen, beides müssen wir lernen und üben können. Das ist der Weg, der uns über einen Daten-Informationswert hinaus unbeschadet und mit Gewinn durch unsere durch-ökonomisierte, zahlenbasierte und eine von bildgebenden Verfahren geleitete gläsernere Datenwelt führt. 

Es gibt bspw. wenig Veranlassung, sich vor künstlicher Intelligenz zu fürchten, schließlich ist sie nur ein mathematisches Modell für Computerprogramme. Sie vermag nicht das Geringste, was wir ihr nicht erlauben zu tun! Wir ahnen es schon, Menschen machen Probleme. Das stimmt! – aber sie können eben auch Lösungen entwickeln! Um die Waldheim-Sonate zu finden, braucht es erweiterte Kulturtechnik, die vermittelt werden kann von Menschen, Lehrern, Vorbildern. Übrigens die jungen Lehrer gehören auch zur Kategorie der Digital Natives. Sie können spielerisch und geradezu waghalsig optimistisch das emanzipatorische Potenzial von Handys, Internet, Coden und Community vermitteln. Inzwischen benutzen junge Leute längst keine Laptops, schon gar keine Desktops mehr. Dank der ständigen Weiterentwicklung und Vereinfachung – vorangetrieben durch die Unterhaltungsindustrie – benutzen sie vor allem ihr geradezu heiliges Smartphone! Der Digital-Gap – also die Lücke zwischen denen, die Zugang zum „Computer“ haben und solchen, die keinen haben, kommt hinzu und ist nicht nur ein technologisches oder ökonomisches Problem, sondern ein gesellschaftliches! Wir haben eigentlich den Wettlauf gegen den technologischen Fortschritt, der Diktion der Unterhaltungsindustrie und der Digital-Kriminellen verloren! 

Der Kern dieser Probleme ist aber, wie wir zu dieser Entwicklung stehen. Denn alle heutigen und zukünftigen Entscheidungen in Politik, Industrie, Rechtsprechung, Forschung und Lehre werden vor diesem Hintergrund getroffen! 

Ist es tatsächlich unsere beste Option, uns zu optimieren und dabei die Interpretation der auf diese Weise erzeugten Daten und Algorithmen den Konzernen oder „Jens Spahn“ zu überlassen? 

Computer sind das „Flashing Tool“ des 21. Jh., es durchdringt alle Lebensbereiche, stülpt unsere Privatheit ins Öffentliche, es betrifft alle Bereiche: der Politik, der Bildung, der Arbeit, die Art, wie wir Denken und Entscheidungen treffen, welche Möglichkeiten wir sehen. Sind wir Bediener von Touchscreens und Apps, oder wollen wir diese nutzen zum Wohle von Communitys, Gruppen von Menschen, die etwas miteinander zu tun haben und selbst bestimmen, welche Werkzeuge sie wie und wozu einsetzen?

Ein Anfang wäre, unseren Kulturbegriff zu überdenken!

*Ralph Brinkhaus, MdB ist Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. „Wie sieht die Kulturnation des 21. Jahrhunderts aus? Kulturpolitik in Zeiten der digitalen Globalisierung“ erschienen 28. August 2019 https://www.kulturrat.de/
* „Das Göttliche“ J.W. Goethe, https://bit.ly/2T8qAJM 

Vortrag gehalten 2007, international Youthconference, Goetheanum, Dornach, Schweiz